Stilles Winter-Riga: Gelegentlich rumpeln Autos über das nass glitzernde Kopfsteinpflaster, vermummte Gestalten huschen durch leere Altstadtgassen. Die Fassaden schimmern im zarten Rosa-Blaugrau der Dauerdämmerung, bis die schweren Regenwolken Himmel und Stadt bleigrau färben. Die wenigen Passanten werfen im fahlgelben Licht der Straßenlaternen lange Schatten.
Die Brüche der Stadt treten deutlicher zu Tage als im Sommertrubel. Die fast völlig sanierte Altstadt nennen Einheimische „Disneyland“, eine künstliche Welt voller Andenkenläden und pseudo-lettischen Touristenkneipen. Auf dem Domplatz bettelt der übrig gebliebene Weihnachtsmarkt mit dudelnden lettischen Schlagern und Weihnachtsliedern um Besucher, vergeblich. Einsame Verkäuferinnen frieren in ihren Holzbuden hinter Stapeln von Honiggläsern, Schokoladen und Auslagen lettischer Strickwaren.
Zu Füssen des Freiheitsdenkmals kurbelt Schokoladenhersteller Laima sein Nach-Weihnachtsgeschäft an: „Schicke uns Deine Wünsche und birnge den Weihnachtsbaum zum Leuchten“, steht auf einem großen Schild in Lettisch, Russisch und Englisch vor einem Tannenbaum voller bunter Lichterkugeln. Die Wunsch sms an Laima kostet 70 Cent.
Im „Leningrad“ sitzen ein paar junge Kerle an der Bar, zwei Letten und ein Ire, der an der Uni in Tartu Politikwissenschaften unterrichtet. „Not real Science, just Political Science“, meint er lachend und erklärt seinem angetrunkenen Publikum mit schon etwas lallender Stimme, warum es echtes gutes Guiness nur bei ihm zuhause in Irland gibt. Zwei Mädchen haben sich zusammen in ein Handy vertieft. Eingerichtet ist die Kneipe wie ein sowjetisches Wohnzimmer in den 70er Jahren: Schrankwandcharme, bräunliche Tapete, auf dem Tresen steht ein alter russischer Mixer, im Schaufenster ein Röhrenradio. Der Drehgriff führt zu Sendern wie Moskau, Warschau, Woronesch oder Minsk. Auch die hiesige Radiowelt endete damals – zumindest offiziell – am Eisernen Vorhang.
Nördlich der Esplanade und hinter dem Hauptbahnhof beginnt das Riga der Einheimischen: Auf dem größten Markt der baltischen Länder, dem Centraltirgus http://www.rct.lv/en/ verkaufen die Händler draußen im Schneeregen an offenen Ständen und den beiden ehemaligen Luftschiffhallen aus den 20er Jahren von Billigklamotten über Obst, Gemüse, Käse, Fleisch und Fisch mehr, als ich mir vorstellen kann. Daziwschen sitzen einige alte Frauen, die ein paar Gläserselbst eingelegtes Weißkraut, Gurken und andere russische Spezialitäten feilbieten. Nur selten kauft jemand bei Ihnen ein. Lettisch hört man hier selten.
Rund die Hälfte der Rigaer spricht Russisch. Sie selbst oder ihre Eltern sind einst in die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik gezogen. Nun sind sie Fremde. Den lettischen Pass bekommt nur, wer die Sprachprüfung und den Einbürgerungstest besteht. „Kein Problem“, erzählt mir später ein russischer Taxifahrer. Die Prüfung sei sehr einfach.
Viele neue Kneipen, Cafes und Bars in denen selten Touristen auftauchen. Fremde fallen auf. Im „Gauja“ zum Beispiel fragt mich einer der mehr oder minder angetrunkene Typen gleich, woher ich käme. So finde ich Freunde für den Abend, ein in Riga gestrandeter Deutscher der inzwischen passabel lettisch spricht, ein Fotograf und ein paar andere (Lebens)künstler.
Viele Häuser und manche Straßenzüge im nördlichen und östlichen Riga tragen noch ihr verwittertes sowjetisches Gesicht: Verrusste graubraune Fassaden warten auf frische Farbe. Uralte Straßenbahnen rumpeln über die Straßen. Mittendrin kommt dann ein nagelneues Modell. Längst sich nicht alle der rund 800 Jugendstilbauten der Stadt renoviert. In manch leerstehenden Laden sind moderne Cafés einzogen, viele witzig, mit alten Möbeln und Schnickschnack dekoriert wie das Bonera (Bonheur) oder das Trusis. Meist gibt es selbstgebackenen, frischen Kuchen oder leckere Suppen.
Im Bonera treffe ich Marcis und Janis. James, ein Engländer, der in Riga Fahrradtouren anbietet, hat mit von den beiden erzählt. Als er mein Interesse bemerkt, gibt er mir die Telefonnummern. Der unkomplizierte Umgang hier gefällt mir. Du fragst, bekommst eine Antwort und meist gleich eine Telefonnummer von jemandem, der oder die weiterhilft. Mit einer lettischen Sim-Karte für 1 Euro 41 im Handy erschließe ich mir so schnell die Stadt. Marcis spricht druckreifes Englisch und gut Deutsch. Viele seiner Ideen hat er sich aus Berlin geholt. Auf http://www.freeriga2014.lv sammelt er mit ein paar Freunden Adressen leerstehender Gebäude in Riga. Selbst in besten Lagen am Esplanade-Park in Sichtweite der Altstadt steht neben den Botschaften der großen westlichen Länder ein ganzer Block leer: Marcis zeigt mir das ehemalige Innenministerium: Zwei Meter hohe, erblindete Flügelfenster reihen sich über mehr als zwanzig Meter auf fünf Etagen Meter aneinander. Die Stadt habe den 150 Jahre Gebäude 2006 an eine Hotelkette vermietet. „Seitdem passiert hier nichts“, sagt der 28jährige. Auf den Fenstern des rußgrau-braunen Gebäudes kleben runde Aufkleber mit der Aufschrift „Occupy Me“, „Besetze mich“. Free Riga hat 3000 davon drucken lassen und klebt sie auf Fenster und Türen leer stehender Gebäude. „Nein“, versicht Marcis, „das ist keine Aufforderung, die Häuser zu besetzen. Wir suchen die Eigentümer und bringen sie mit Menschen zusammen, die diese Häuser nutzen wollen.“ Kunststudenten der Akademie gegenüber suchen zum Beispiel Ateliers und Ausstellungsräume. Rund 400 ungenutzte Gebäude zeigt der Stadtplan auf der Internetseite von Free Riga inzwischen und täglich kommen neue hinzu.
„Die Krise“, erzählt mir später ein australischer Journalist, der seit 20 Jahren in Riga lebt, „has done some fucking good to this city“: weniger Staus, weniger Neureiche, die überteuerte, langweilige Apartmentblocks in die Stadt klotzen und mehr Kreativität. Riga habe in der Krise seine Seele wieder gefunden. Nach dem Absturz der Wirtschaft 2008 geht es Lettland wieder besser.
Vor allem die Älteren fremdeln noch mit dem gerade eingeführten Euro. Kassiererinnnen halten die Scheine mit skeptischem Blick gegen das Licht. Manch eine streicht behutsam mit der Hand über das fremde Papier, als wolle sie es auf Echtheit prüfen. Kunden zögern, rechnen in die vertrauten Lats um und suchen oft lange nach den passenden neuen Münzen und Scheinen.
Doch der Optimismus ist zurück. Drüben in Kipsala, auf der anderen Seite des großen Flusses, hat eine Architektin zusammen mit ihrem Mann, dem ehemaligen Premierminister eine komplette Holzhaussiedlung vor dem Abriss gerettet. Zum Nato-Gipfel 2004 wollte die damalige Regierung den vermeintlichen Schandfleck abreißen, um Platz für neue Glaspaläste zu schaffen. Architektin Zaiga Gaile und ihr einflussreicher Mann Maris setzten sich für die verfallenden Hütten am Fluss ein, erwarben eine nach der anderen, um sie zu sanieren und mit Gewinn weiter zu verkaufen. 15 der traditionellen Holzhäuser aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben die beiden so gertettet und damit eine Menge Geld verdient. Vor 20 Jahren kostete ein Quadratmeter Grund am Südufer der Daugava mit Blick auf die Altstadt ungerechnet zehn Dollar. Heute gehen die Grundstücke für 2000 Euro/Quadratmeter weg.
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